Bericht vom Schützenfest in Bigge 2015
Gerlinde Dauber
Autorin Gerlinde Dauber hat für WOLL einmal einen etwas anderen Bericht von einem Sauerländer Schützenfest geschrieben. Gerne veröffentlichen wir hier ihre Erinnerungen, Gedanken und Erlebnisse.
Am Wochenende ist in Bigge Schützenfest.
Früher war das für uns Kinder ein Wochenende, dem wir mit gemischten Gefühlen
entgegensahen.
Schon Tage vor dem Schützenfest wurde der Garten auf Vordermann gebracht, der
Gartenzaun gestrichen (wenn dies nicht schon zu Fronleichnam geschehen war),
die Straße gefegt, das feine Kleidchen gebügelt, die weiße Schützenhose meines
Vaters gereinigt, die Schützenfahne nochmal aufgebügelt und die Bommel
erneuert, der Sauerbraten war eingelegt, Kuchen wurde gebacken, Getränke
gekauft, denn zum Schützenfest sind Gäste stets willkommen.
Am Samstag wurde die blau-weiß-grüne Fahne vom oberen Boden aus
angebracht. Das Fahnenaufhängen im Kirchturm war eine traditionelle Aufgabe
meines Vaters, den wir Kinder oft bis zu den Kirchenglocken begleiten durften und
ängstlich darauf warteten, dass er vom damals noch nur mit Bohlen begehbaren
Gewölbe und aus dem nur mit einer Leiter bzw. einer Stange besteigbaren Turm
wieder wohlbehalten zurück kam.
Die Eltern gingen am Samstagabend, nachdem wir ins Bett gebracht worden waren
und die Mieter, Oma Buschhaus mit Tochter Elfriede und deren Sohn Günter, als
Aufpasser engagiert waren, in die Schützenhalle, waren also am Sonntagmorgen
noch nicht so gut ansprechbar wie sonst.
Am Sonntag: Schützenhochamt, zum Mittagessen Sauerbraten mit Klößen, der
Vater ging dann als Vorstandsmitglied in weißer Hose, dem Vorstandsrock und der
Schützenkappe um kurz nach 14 Uhr zum Antreten an die Apotheke.
Der Festzug mit dem Schellenbaum voran, bei dem ich zur Kinderzeit mitgelaufen
bin, während Franzjo mal an Vaters Hand im Festzug mitging, zog stets durch die
Mittelstrasse, wo wir später mit Mutter quasi die Parade abnahmen.
Vater kam nach dem Festzug zum Kaffeetrinken nach Hause und dann ging es
gemeinsam zur Halle und auf den Rummelplatz. Das Kettenkarussell war natürlich
die Attraktion, und die Lakritze, die gebrannten Mandeln, für Franzjo eher die
Schießbude, die er in späteren Jahren mit seinen Freunden stets abgeräumt hat. In
der Schützenhalle durften wir Limonade, die zu Hause eher Seltenheitswert hatte,
aus der Flasche mit Trinkhalmen trinken. Gegen 18 Uhr gab es den Königstanz mit
der immer wieder bewunderswert anzusehenden Königin und dem Hofstaat, dann
den Kindertanz mit anschließendem Ausmarsch aus der Halle. Für uns war das
Fest zu Ende. Die Eltern brachten uns nach Hause, ins Bett und feierten in der
Schützenhalle weiter.
Am Schützenfestmontag, an dem der Vogel geschossen wird, mussten wir natürlich
in die Schule – und dann fing das Elend für uns Kinder an: Nach der Schule war
niemand zu Hause, das Haus war verschlossen. Auch in der Nachbarschaft:
niemand da. Genauso erging es meiner Schulfreundin Ruth Becker und Schöns
Lisa, deren Eltern ebenfalls zum Vogelschießen waren.
Die Tornister wurden unter dem Birnbaum oder im Lager verstaut, Franzjo ist auch
mal durchs Klofenster ins Haus geklettert. Dann machten wir uns auf, die Eltern zu
suchen, was nicht einfach war, denn das Vogelschießen war ja längst
abgeschlossen, der neue König proklamiert und die Schützenhalle leer. Geld für
den Rummelplatz hatten wir nicht mehr, also ging es auf die Suche nach den
Eltern, die in irgendeinem Garten weiter feierten. Ich kann mich nicht konkret
erinnern, dass wir sie je gefunden haben, denn die Örtlichkeiten wechselten, mal
bei Försters, mal bei Hüttemanns, mal bei Meschedes, mal bei Ochsenfelds oder
sonstwo. Wie die Waisenkinder fühlten wir uns, bis die Eltern dann irgendwann am
späten Nachmittag auftauchen, denn Abends war ja noch ein Festzug, bei dem der
Vater trotz mehr oder weniger reichlich Bier mitmarschieren mußte.
In einem Jahr, ich muß sieben oder acht Jahre alt gewesen sein, war die Suche
nach den Eltern wieder einmal erfolglos, selbst zum Festzug waren die Eltern nicht
zum Umziehen nach Hause gekommen. Also habe ich mit meinen Freundinnen den
Festzug an der Hauptstraße angesehen und dann: Mein Vater stand auf dem
Schaufensterdach vom Schuhhaus Vorderwülbecke, ein Sohn von
Vorderwülbecken (Lurchis genannt, denn dort wurden Salamanderschuhe
verkauft), hielt meinen Vater fest und mein Vater schwenkte zum Gaudi aller Leute
eine Schützenfahne. Ich habe mich zu Tode geschämt.
Später nach diesem Fest wurden „Lurchis“ eingeladen. Damals waren in Blätterteig
eingebackenes Gehacktes (sog. Wurstbrötchen) „in“, das besonders gut
schmeckte, wenn es mit Tabasco, einem aus Chilli hergestellten scharfen
Flüssiggewürz, gewürzt wurde. Franzjo gab den kulinarischen Hinweis:“Mutter,
mach dem alten Lurchi ganz viel Tabasco drauf, dann wird er ein
Feuersalamander.“
Für das Schützenfest wurde natürlich seinerzeit auch trainiert, nämlich das
Marschieren. Franzjo und Schöns Lisa hatten sich im Wohnzimmer auf dem
Plattenspieler den Radetzky Marsch aufgelegt, übten fleißig das Marschieren,
immer rund um den Wohnzimmertisch. Dort stand in einem langstieligen, kostbaren
Sektglas eine Rose aus dem Garten. Es kam wie es kommen mußte: das Glas fiel
um, zerbrach und Franzjo und Lisa flüchteten. Von den Sektgläsern, die Edith vom
Opa aus Fredeburg geschenkt bekommen hat, existieren heute noch 4 Exemplare;
ein weiteres ist sicherlich mal beim Spülen drauf gegangen.
Ein paar Erinnerungen habe ich auch noch an 1963, das Jahr, in dem mein Vater
Schützenkönig war.
Ich weiß, dass der Vogel, der Samstags traditionell beim König abgeholt wird,
nachmittags von Körners Franz und Sohn Fanti gebracht wurde, im Flur stand und
plötzlich umfiel, so dass der goldene Schnabel abgebrochen war. Körners Franz
wurde mit Leim schnellstens herbestellt, der stolze Vogel repariert.
An den Festzug am Sonntag kann ich mich auch noch erinnern. Den ganzen Tag
war schon emsiges Gewussele im Haus, die Verwandtschaft aus Fredeburg war
da, Kreutzmanns Mia kam, um Edith und Schöns Marlies, die Hofdamen waren, vor
dem Frisiertisch im Schlafzimmer die Haare zu frisieren. Eva Hüttemann, die
Königin meines Vaters, trug diese wunderschöne Krone, die aber – so erinnere ich
mich – an den Ohren drückte.
Eva Hüttemann und die Damen des Hofstaates waren typisch für die 60er Jahre
gekleidet mit eleganten knielangen Kleider, Schärpen, ellenlangen weißen Glace-
Handschuhe, Schuhe, die heute High Heels genannt werden, dem für die damalige
Zeit übliche Abendtäschchen und Blumensträußen: Evas Blumenstrauß waren rote
Rosen, für den Hofstaat die heute vergessenen Nelken.
Der Festzug zum Abholen des Königspaares mit dem Hofstaat kam mit damals
noch mit Kutschen für das Königspaar und die Hofdamen. Franzjo durfte auf dem
Kutschbock mitfahren, mich haben sicherlich die Fredeburger in Obhut und mit in
die Schützenhalle genommen.
Bildlich vor mir habe ich den Kindertanz, bei dem Eva Hüttemann die riesig große
Tüte mit den Bonbons für uns Kinder in der Hand hatte.
Erinnern kann ich mich auch noch, dass es nachts, als das Königspaar wieder in
die Mittelstrasse gebracht wurde, ein Feuerwerk gab.
Edith hat von diesem Fest stets erzählt, dass die traditionellen Ständchen, die es
jetzt samstags nachmittags gibt, damals am Sonntagmorgen um 5 Uhr als sog.
Wecken dargebracht wurden. Meine Eltern wurden regelrecht von der Musik
geweckt, sie hatten nach dem Fest am Samstag tief und fest geschlafen. „Franz,
aufstehen, sie sind schon da“ – mit diesem Schreckensruf hieß es flott aus den
Federn, rein in die Kleider – und Edith hat ihr Kleid verkehrt herum angezogen: der
Ausschnitt war also auf dem Rücken und nicht da, wo er hin sollte!
Unvergessen sind auch die Geschichten, die Tante Maria (Steinrücke, geb. Dauber,
Schwester meines Vaters) auf Sauerländer Platt erzählte:
– von Trempers, die die Munition lieferten. Als 1910 der Vogel sich sehr zäh
erwies, hieß es, dass läge an der Munition. Theodor Busch, genannt Trempers,
soll daraufhin gesagt haben – auf Sauerländer Platt natürlich – : „Das gibt es
nicht, ich habe nur die beste Ware geliefert!“, setzte zum Schuss an und natürlich
kam der Vogel herunter. Frau Busch war damals hochschwanger, hatte sich das
Plaid umgelegt, um sich zu erkundigen, wer König sei (zur damaligen Zeit gingen
schwangere Frauen nicht zur Vogelstange). In Höhe der Einmündung der
Hauptstraße in die heutige Stadionstrasse kam ihr am Bahnübergang ein Kind
entgegen, das sie fragte, wer denn der neue König sei. „Der olle Trempers“ war
die Antwort. Frau Busch lief weinend nach Hause, zählte das Geld in den
Kaffeeköppkes, denn die Ausgaben für Schützenkönigdasein waren nicht
einkalkuliert.
– von dem Hofstaat 19…??. Dovid (August Fischer) der als Herold mit einem
Pferd ausritt, um die Königin und die Damen des Hofstaates von ihren
bevorstehenden Würden zu informieren, hatte bei den vielen Familien Körner im
Dorf die falsche Frau Körner als Hofdame ausersehen. Als die im vollen Ornat
mit der Hofdamen-Schärpe und einer Rose im Haar am Schützenfestmontag
zum Festzug im Hause des Königs erschien, hieß es:“Du doch nicht!“ Die
selbstbewusste Antwort:“Jetzt bin ick’s und jetzt bleib ick’s!“
– vom Schützenfest 1922, als Josef Körner den Vogel abschoss und sich Tante
Maria zur Königin ausersehen hatte, weil die beiden auf den glattpoliert
Dreschboden in der alten Mühle heimlich das Walzertanzen mit der Bigger
Jugend geübt hatten. Als Dovid in der Mittelstrasse 8 hoch zu Roß ankam, hatte
sich Tante Maria, damals 22 Jahre alt, hinter der Tür zum Wohnzimmer versteckt.
Vater Dauber, mein Opa, seinerzeit Hauptmann des Schützenvereins, war als
sehr streng bekannt und Tante Maria fürchtete sich vor seiner Reaktion: „Maria,
kumm hinner der Deere denne. Noi mast Due Schützenkönig wern, ob Due willst
or nicht. Dat häste nu von Deiner Dreschmaschinenbalkendanzerigge“ (auf
Hochdeutsch: Maria, komm hinter der Tür hervor. Nun mußt Du Schützenkönig
werde, ob Du wi l lst oder nicht . Das hast Du nun von Deiner
Dreschmaschinenbalkentanzerei).
Das Wort Dreschmaschinenbalkendanzerigge
war und ist einzigartig.
In der Jugendzeit war Schützenfest das Fest der Feste:
Samstags am Nachmittag die verschiedenen Ständchen im Dorf als Einstimmung
auf das Hochfest der Schützen, abends – nachdem Franzjo und Freunde sich mit
Ölsardinen und Weißbrot eine Grundlage geschaffen hatten – im neuen Kleid in der
Schützenhalle mit Tanz, viel Bier, eventuell zwischendurch als Stärkung eine
Rinderwurst (sog. Rinderpümmel), dem immer wieder beeindruckenden „Großen
Zapfenstreich“ und anschließendem Eierbraten, oft auch bei Daubers.
Sonntags gingen Franzjo und seine Freunde (einmal auch mit einem
Schmallerberger Freund, der dem Schützenverein gar nicht angehörte, aber flugs
mit weißer Hose und Schützenkappe ausstaffiert wurde) natürlich mit im Festzug,
Mutter und wir die dazugehörenden Mädels – natürlich wieder in feinen Kleidern –
nahmen die Parade auf der Treppe in der Mittelstrasse 8 ab. Anschließend gab es
Erdbeerkuchen bei Daubers, bevor es zum Feiern in die Halle ging. Diese Abende
waren stets fröhlich, ausgelassen, mit Tanz, dem Königstanz, der obligatorischen
Polonaise auf dem Sportplatz und natürlich dem traditionellen Eierbraten.
Montags ging es unter die Vogelstange. Die Jungs waren natürlich beim Antreten
an der Apotheke dabei, um mit dem traditionellen Hemmerling, der damals noch
nicht frei verkäuflich war, den Restalkohol zu vertreiben. Für mich bestand meistens
die erste Herausforderung darin, die weißen Schützenfesthosen zu waschen und
fürs Eierbraten neue Eier, ggfs. für die Feier im Garten noch diverse Zutaten zu
besorgen, bevor ich ebenfalls zur Vogelstange konnte. Nach der
Königsproklamation ging es – wie es schon die Eltern vorgemacht hatten – zum
Weiterfeiern nach Meschedes oder Daubers in den Garten. Nicht nur einmal
endeten diese Schützenfestmontage damit, dass die Jungs nicht mehr fähig waren,
am Festzug teilzunehmen (z.B. weil immer noch versucht wurde, dass ausgestopfte
Wildschwein bei Meschedes mit Apfelsinen, die auf einer Heugabel aufgespießt
waren, zu füttern, das Stachelhalsband von unserem Hund Asta als neuer
Modeschmuck auserkoren war, noch reichlich Bier vorhanden war usw.). Wenn die
Teilnahme am montäglichen Festzug angesagt war, bestand die Herausforderung
darin, die weiße Hosen, die ja morgens gewaschen worden waren, noch zu bügeln.
Vor 40 Jahren hat Karl-Josef Hüttemann den Vogel abgeschossen. Ruth Hoppe
wurde seine Königin und Edith war im Hofstaat – mit Hoppen Paul als Begleiter.
Am Abend des Schützenfestmontags gab es ein heftiges Gewitter mit einen
außergewöhnlich starken Sturm, der im Garten den Birnbaum umgerissen hat.
Der Schützenfestdienstag bleibt in Erinnerung, als am späten Nachmittag Hoppen
Paul, Hans Müller, Karl-Josef Hüttemann, Hänschen Stappert mit noch einigen
fröhlichen Menschen bei Daubers auftauchten, um weiter Wein, Bier, Schnaps oder
Sekt zu trinken. Irgendwann wurde ich aufgefordert, zum Fleischer Fischer zu
gehen, um fingerdick geschnittenen Schwartenmagen zu kaufen. Meine Bestellung
kommentierte Else Fischer mit den Worten:“ Ist Hoppen Paul bei Euch?“
Und heute?
Am Ortseingang von Bigge kündigen Schilder „Achtung Festumzüge“ an, die
Stadtfahnen flattern im Sommerwind.
Schon am Montag habe ich vorm Haus gefegt, das Grünzeug zwischen den
Pflastersteinen minimiert, so dass heute nur noch meine neu angepflanzten Rosen
ihre Pflege bekommen. In der Nachbarschaft wird heute nochmals die Straße
gefegt, Schöns Lisa ist dazu extra aus Wülfte angereist.
Robbi, der Rasenroboter zieht seine Runde. Kurt Peters hackt mit Lebensgefährtin
den Vorgarten. Der „Grüne“ hat die Schützenfestfahne schon gehießt.
Selbst die Stadtgärtner waren tätig, haben die verunkrautete städtische Fläche an
der neuen Biekenbrücke schützenfestfein gemacht. Hat vielleicht meine Mail, die
ich vor ein paar Wochen an den Bürgermeister geschickt habe, Wirkung gezeigt?
Püttmann Luischen, also Frau Bäckerling, ist ebenfalls in der frischrenovierten
Wohnung in „Bockes“ angekommen, so dass am Nachmittag noch die
zwischenzeitlich morsche Fichte im Garten gefällt werden kann.
Ab 17 Uhr geht es mit lauter Musik im sog. Schweinestall bei Menken los, wo die
jungen Wilden von heute (Maiworm, „Schnorri“ usw.) das Schützenfest einläuten.
Wenn es kälter wäre, könnte man meinen, eine zünftige Apres-Skiparty sei im
Gange (soll ich mir meine Skischuhe vom Boden holen?) – oder mit Sangria statt
Wein = Ballermann ? ….also laute Musik gratis.
Irgendwann knallen Böller, dann kommt ein geschmückter Trecker mit ebenfalls
lauter Musik: das ist eine andere Truppe, die sich auf Schützenfest einstimmt.
Eine nächste Gruppe zieht mit dem Bollerwagen durch die Mittelstrasse, wohl die
Fahnenaufstellabteilung von „Bigge West“, die bei diversen „Kunden“ die
Schützenfestfahnen aufstellen.
Vereinzelt sind nochmal Böller zu hören, aber irgendwann um 21 Uhr wird es im
„Schweinestall‘ ruhig, so dass die Vögel wieder zu hören sind. Die „Helden“ sind
sicherlich noch nicht müde, aber es stehen ja noch drei Festtage bevor.
Heute, am Samstagmorgen, heißt es, die Fahnenstange aufstellen, was Franzjo
dankenswerter Weise schon sehr früh für mich erledigt. Im letzten Jahr feierten die
Schützenbruderschaft St. Sebastian ihren 150. Geburtstag, so dass ich endlich für
die Mittelstrasse 6 eine Fahnenstange und Schützenfahne angeschafft habe. Vom
Haus Mittelstrasse 8 flattert die blau-weiß-grüne Fahne, an der Werthstrasse die
Schützenfahne. Auch Nachbar Wolfgang hat die beiden Fahnenstangen für die
Mittelstrasse 1 und 3 schon aufgestellt. Jan Deimel, der zwar in Österreich lebt,
sich jedoch intensiv um die Mittelstrasse 4 kümmert, wird jetzt beim nächsten
Besuch „angespitzt“, damit zukünftig auch „Regenhardts“ – wie das Haus als
Solstätte heißt – mit einer Fahne zum Schmuck der Altstadt am Schützenfest
beiträgt.
Bis zum Nachmittag ist von Schützenfest nicht mehr viel zu spüren. Dann gibt es
Böllerschüsse und aus der Ferne sind die diversen Ständchen zu hören, leider
nicht mehr so unmittelbar wie zu den Zeiten als der Major Dieter Flügge noch in der
Nachbarschaft wohnte und ebenfalls Körners Franz sein Ständchen bekam.
Die Sonne lacht, es geht ein leichtes Windchen. Die ersten Schützenbrüder
machen sich auf den Weg zur Schützenhalle, von wo es zum Abholen des Königs
und des Vogels geht.
Jetzt ist die Musik lauter zu hören, Marschmusik erklingt, zwischendurch das
„Hungertrömmelchen“ und über die Hauptstraße kommt ein Zug durch die Altstadt –
ganz entgegen der in der Schützenfestzeitung „Üwer Kimme und Korn“
beschriebenen Route: viele Jungschützen, die das Marschieren noch nicht richtig
drauf habe, ziehen mit einer Musikkapelle vorbei – das kann nur „Bigge West“ sein,
die zur Schützenhalle marschieren.
Im Anschluss erklingen die Kirchenglocken, läuten den Sonntag ein.
Und dann wieder Musik: jetzt kommt der Zug über die Hauptstraße: vorweg der
Schellenbaum, die Knüppelmusik, die Blaskapelle, der Schützenvorstand und ca.
180 Schützen marschieren in die Weststrasse, um den König abzuholen.
Nach einiger Zeit kommt ein Polizeiauto, dann der Festzug, jetzt mit dem König
Philipp Göddecke und dem mit einem Hortensienkranz geschmückten Vogel. Das
Feuerwehrauto schließt den Festzug ab.
Ein ruhiger Schützenfestsamstag mit Vogelgezwitschere im Garten.
Friedliche Abendruhe über Bigge, die Schwalben ziehen pfeilschnell mit ihren
eigenartigen Rufen die Runde zwischen den alten Fachwerkhäusern. So dann und
wann fährt ein Auto. Kein Lüftchen regt sich, so dass die Musik vom Rummelplatz
nicht zu hören ist. Abendfrieden.
Sonntagmorgen
Die Sonne hat sich noch nicht entschieden, ob sie heute scheinen möchte. Ab und
zu schaffen es die Sonnenstrahlen durch die dicke Wolkendecke.
Die Kirchenglocken läuten zum Schützenhochamt.
Oh weh: ein paar wenige Regentropfen und Regenradar verheißt auch nichts
Gutes. Bigge und Olsberg konkurrieren um das beste Schützenfestwetter, so dass
in diesem Jahr der Punkt scheinbar an die Olsberger geht.
Das Thermometer zeigt keine sommerlichen Temperaturen an, also ist ein
elegantes Sommerkleid heute nicht das passende Outfit.
Ein typischer sauerländischer Landregen macht sich breit, für Natur und Pflanzen
zwar sehr wohltuend, aber zum Schützenfestumzug könnte es ja heute wenigstens
trocken sein. Oder straft der Himmel die Absage des diesjährigen Osterfeuers
durch die Schützen wegen angeblich schlechtem Wetter?
Dennoch: Vom Antreten bei der Apotheke schallt die Schützenfestmusik herüber.
Trotz heftigem Regen marschieren die Schützen über die Hauptstraße in die
Weststrasse, um das Königspaar abzuholen.
Der Regen trommelt auf dem Blechdach meines Freisitzes, dem sog. Abdach.
Vermischt mit dem Regengeprassele ist die Marschmusik im Dorf zu vernehmen
bis die Musik irgendwann aufhört. Der Festzug ist scheinbar abgebrochen. Unter
den Regenschirmen gehen die sog. Zaungäste mit langen Gesichtern nach Hause:
keine Parade am Milchbock, kein Festzug durch die Altstadt, keine Totenehrung an
der Kirche.
Den ganzen Nachmittag regnet es weiter, von Schützenfest ist nichts zu spüren.
Erst gegen Abend wird es trocken.
Schützenfestmontag
Kein Wetter für ein munteres Vogelschießen: eine dicke Wolkendecke hängt über
Bigge, es ist sehr kühl, vielleicht bleibt es ja wenigstens trocken.
In der Zeitung ist zu lesen, dass in Niedermarsberg am Samstag beim traditionellen
Anböllern, dem Abschießen von Salutschüssen aus historischen Kanonen, der
Schützenkönig von Trümmern getroffen worden ist und verstarb. Ein sehr
tragisches Ereignis.
In der Apotheke werden jetzt sicherlich die Hemmerlinge bereitgestellt, der
traditionelle Schnaps aus diversen Kräutern, vom Apotheker Hemmerling kreiert,
dessen Zusammensetzung nur wenigen bekannt ist und der zum Antreten am
Montagmorgen den Schützen als Stärkung gereicht wird. Als der Hemmerling,
Tinctura stomachia composita -wie auf der Flasche steht- , noch nicht
freiverkäuflich war, stand auf den alten Medizinflaschen, in denen er abgefüllt war
„Schü-fe-schna“, also die Abkürzung für Schützenfestschnaps. Warum ich das
weiß? Edith hatte damals von Karl-Heinz Förster eine Medizinflaschen mit dieser
Aufschrift geschenkt bekommen.
Der Hemmerling gehört in Bigge zwischenzeitlich zur Grundausstattung, denn er
kommt ja aus der Apotheke, ist also Medizin, deren Gebrauchsanweisung ernst zu
nehmen ist „Nach der alt bekannten Regel -Zuviel des Guten ist von Übel-, trinke
man nur 2 bis 3 Mal täglich 1 oder 2 Gläschen und die gut gekühlt.“
Die Musik, die zum Antreten der Schützen gespielt wird, schallt herüber.
Bigge-online hat eine Webcam installiert, mit der das Vogelschießen live verfolgt
werden kann.
Mit der Musikkapelle voran marschieren die Schützen auf den Platz.
Es wird eine Ansprache gehalten – leider ist die Webcam ohne Ton.
Die erste Patrone wird ins Gewehr gepackt. Dem amtierende König mit der
Königskette gebührt der erste Schuss. Auch Pastor Steilmann schießt, genauso wie
weitere Ehrengäste, u.a. der amtierende Kaiser Martin Bültmann. Der offizielle Teil
geht zu Ende, Schützenbrüder eilen zur unter einem Veltinsschirm aufgebauten
Kasse, um Schüsse zu kaufen.
Beim Schießen assistieren zwei mit den diversen Orden geschmückte
Vorstandsmitglieder, die die Patronen einlegen. Die beiden Gewehre sind auf
Vorrichtungen befestigt, so dass die Zielrichtung vorgegeben ist. Die ersten
Holzsplitter fliegen, der Vogel ist noch mehr oder weniger unbeschadet. Jeweils zu
zweit treten weitere Schützenbrüder an den Schießstand, schießen abwechselnd
mit manchmal mehr oder weniger Glück auf den Vogel. Auch der Pastor ist unter
den Schützen zu erkennen. Frauen sind natürlich nicht zugelassen, die
Schützenbruderschaft ist eine reine Männerbastion.
Da: ein Flügel ist schon ab! Früher sammelten die Jungen diese Überreste auf,
präsentierten sie stolz.
Emsig wird weiter geschossen. Auch der zweite Flügel ist getroffen, hängt schlapp
herunter und dann fällt er.
Auf dem Schützenplatz haben sich viele ZuschauerInnen eingefunden, verfolgen
gespannt das Vogelschießen.
Erkennbar ist, dass der Vogel bzw. sein Gerippe noch Krone, Apfel und Zepter hat.
Schade, dass Kamerabild ist zu dunkel, so dass nicht erkennbar ist, was getroffen
wird. Irgendwann ist die Krone weg, es gibt also einen neuen Vizekönig.
Um 11 Uhr läuten die Totenglocken, so dass eine längere Schießpause eingelegt
wird.
Danach geht es in die „heiße Phase“. Die Kamera zeigt den Schießstand mit den
diversen Anwärtern und das gespannt wartende Publikum.
Wieder fliegen Splitter, der Apfel scheint ebenfalls getroffen.
Nur noch Reste des einst stolzen Vogels sind auf der Stange zu erkennen.
Und nun im entscheidenden Augenblick streikt natürlich die Kamera, zeigt erst
wieder Bilder, als dem neuen König, Dirk Brüschke, gratuliert wird.
Jetzt kann gefeiert werden.
In Bigge sind deshalb die Geschäfte ab Mittag geschlossen. Viele Geschäfte sind
das nicht mehr: Bäcker, Metzger, Apotheke, Schuhgeschäft, Dekorateur, Frisöre,
Bekleidungsgeschäft. Früher war die Bigger Geschäftswelt umfangreicher
aufgestellt: es gab Lebensmittel bei Schöns, Stinnes/Körners, Schiefelbeins, im
Konsum und auf dem Bruch bei Wegemeiers – später bei Cavalleri, die Post,
Drogerie Schültke, das Uhrengeschäft Meinken, bei Faust Schreibwaren, Tabak
und Zeitungen, bei Flüggen ebenfalls Schreibwaren, Blumen bei Buttermilch und in
einer Filiale von Friggers, Elektroartikel bei Sauerwald und Engel, Milch und Eis bei
Cavalleri, Brot bei Stinnes, Overhageböck, Winkler und Fietz, Getränke bei Deimel
– a u c h a m Sc h ü t z e n f e s tmo n t a g n a c hmi t t a g ! , Sc h u h e a u c h b e i
Vorderwülbecke/“Lurchi“, das Fotogeschäft von Hanne Langer, Spielwaren und
Haushaltsartikel bei Busch, Biens Tildchen mit Hüten, Fahrräder bei Trempers/
Busch, Einmachgläser und diverse Haushaltsartikel bei Rosenberg in der
Weststrasse, Handtaschen und Lederwaren bei Klauke, Unterhosen, Nachthemden
usw. bei Baumann, bei Brune – vorher Fräulein Kupitz – Bücher, bis in die 60er
Jahre alles, was zum Nähen und Handarbeiten notwendig war, bei Fräulein
Wienand in der Mittelstrasse 1, eine Heißmangel bei Kersting, später eine Eisdiele,
ein Handarbeitsgeschäft, das Künstleratelier Suberg und einen Schleckermarkt und
natürlich das Stüllecken, eine Quelle, die seit der Bebauung im Sichtern nicht mehr
sprudelt.
Es regnet wieder, feiner Nieselregen. Deshalb ist es im Dorf auch sehr still, nur die
Autos auf der Hauptstraße sind zu hören.
Gegen 17 Uhr habe ich den Eindruck, dass auffällig viele Menschen im Dorf
unterwegs sind. Später bringe ich in Erfahrung, dass bis dahin in der Schützenhalle
das Bier geflossen ist.
Um 18,30 Uhr ist Musik von der Apotheke aus zu vernehmen. Die Schützen treten
zum Festzug an. Mit der für den Schützenfestmontag üblichen viertel stündigen
Verspätung setzt sich der Zug mit ca. 80 Schützen zum neuen König in Bewegung.
Ob der Festzug durch die Altstadt kommt, ist fraglich. Wahrscheinlich geht es auf
dem kürzesten Weg in die Schützenhalle, denn das Wetter ist für einen langen
Umzug nicht einladend: zwar kein Regenschauer, nur feiner Sprühregen, es ist kühl
und der Regen wird passend zum Umzug heftiger. Ohne Regenschirm geht das
wohl nicht und das Motto heißt somit: Schnell in die Schützenhalle, so dass der
Weg eben nicht durch die Altstadt führt. König und Königin lächeln unter einem
großen Regenschirm, die Königin im blau-fliederfarbenen, schulterfreien Kleid mit
der Schleppe, für Regen geradezu ideale Festbekleidung. Ebenfalls unter großen
Regenschirmen der Hofstaat. Dann ist der Festzug vorüber, die wenigen Passanten
zerstreuen sich schnell.
Von einem Besucher werde ich auf die Häuser in der Altstadt angesprochen. Aus
Dortmund kommt der Herr, zeigt seine Begeisterung für unsere einmalige Altstadt,
besonders gut gefällt ihm – wie mir auch – eine der Inschriften an der Mittelstrasse
6: „Alle, die mich kennen, den gebe Gott, was sie mir gönnen.“
Morgen in aller Herrgottsfrühe werden die Fahnen abgenommen, die
Fahnenstangen bis nächstes Jahr verstaut.
Schützenfest in Bigge ist vorbei.